V. Reinhardt: Geschichte der Schweiz

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Titel
Geschichte der Schweiz.


Autor(en)
Reinhardt, Volker
Erschienen
München 2006: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
218 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Georg Kreis

Auf der Ebene von Einzeluntersuchungen geht es der Geschichte der Schweiz nicht schlecht. Die Sparte entwickelt sich und ist produktiv. Gleiches kann man von der Gattung der Gesamtdarstellungen nicht sagen. Die letzte umfassendere, bei Schwabe neu aufgelegte Darstellung ist bald dreissig Jahre alt. Eine seit 1974 parallel dazu existierende kleine Schweizergeschichte von Ulrich Im Hof erlebte mehrfache Neuauflagen (zuletzt 2001 bei Kolhammer/Urban in 7. Aufl.). Bei dieser Sachlage war es zu begrüssen, dass C.H. Beck in der Reihe «Wissen» eines seiner Bändchen auch der Geschichte der Schweiz widmete. Um so grösser die Enttäuschung, wenn man feststellen muss, dass dieser Text weit hinter Im Hof zurückliegt. Im besten Fall könnte man ihn als Versuch verstehen, gewisse staatliche Besonderheiten des «Phänomens Schweiz» herauszuarbeiten, von dem es im Vorwort so stereotyp wie unzutreffend heisst, dass es durch das «Hochgebirge abgeschottet» sei.

Der Autor ist gegenüber Teilen des helvetischen Selbstverständnisses nicht unkritisch, er erlaubt sich von der Landsgemeinde-Ideologie zu sprechen und bei Bruder Klaus eine mythische Überhöhung zu diagnostizieren. Andere Formulierungen – etwa diejenige vom «ruhmvollen Scheitern» von Marignano oder von den «ehrbaren Söldnern» – geraten dagegen ausgesprochen konventionell. Dazwischen seltene Lichtblicke, wenn etwa zum 18. Jahrhundert von einem spezifischen Republikanismus die Rede ist, der sich aus einer Verschmelzung von altständischen und frühliberalen Elementen ergeben habe.

Dass das in einem deutschen Verlag für ein deutschsprachiges Publikum verfasste Büchlein vorwiegend deutschschweizerische Geschichte im Blick hat, ist verständlich. Es wirkt aber doch sonderbar, wenn sich eine Charakterisierung des Ancien Régime darin ergeht, inwiefern Gottfried Kellers «Landvogt von Greifensee» ein zutreffendes Bild von ihm vermittelt. Die Darstellung ist grundsätzlich um politische und konfessionelle Ausgewogenheit bemüht. In den Konflikten, die der Bundesstaatsgründung von 1848 vorausgehen, zeigt sich jedoch eine leichte Schlagseite. Die Klosteraufhebung von 1841wird unabgeschwächt als Bruch des Bundesvertrags bezeichnet, vom katholischen Sonderbund von 1845 wird Gleiches nicht gesagt.

Sonderbar unausgewogen die Bibliografie: Von den in letzter Zeit herausgekommenen Kantonsgeschichten wird beispielsweise die St. Galler Geschichte aufgeführt, nicht aber die Schaffhauser Geschichte, von den neuen Bündner und Tessiner Kantonsgeschichten ganz zu schweigen; aus der französischen Schweiz nur gerade ein Titel (C. Hauser zur Jura-Geschichte). Auch die einzelnen Zeiten und Dimensionen werden höchst zufällig bedient. So wird eine Theologenarbeit zu Zwingli aufgenommen, nicht aber Gruners grundlegende Arbeit zur Arbeiterbewegung oder – was ja mal was Neues gewesen wäre – Jakob Messerlis Arbeit über Zeiteinteilung und Zeitgebrauch in der Schweiz des 19. Jahrhunderts (1995).

Über die soziale Schichtung der schweizerischen Gesellschaft erfährt man kaumetwas. Die Hauptschwäche der Darstellung besteht aber darin, dass sie meint, ganz ohne Wirtschaftsgeschichte auskommen zu können. Wirtschaft ist, wie die zwei kurzen Erwähnungen zeigen, aus dieser Sicht ohnehin identisch mit moderner Industriewirtschaft. Man wird bis ins 18. Jahrhundert durch die Geschichte geführt, ohne – sofern man von den viel zu oft erwähnten Söldnern absieht – dass die wirtschaftliche Existenzgrundlage des Landes überhaupt nur erwähnt wird (S. 76 auf 119 S.). In diesem Land gibt es keine Kühe, keine Uhren, keine Lebensmittelindustrie. Der Text lässt sich lange über die Burgunderbeute aus, wir erfahren aber nichts über die Verkehrswege, die beispielsweise in die Westschweiz geführt haben. Im Ersten Weltkrieg erhält die Oberstenaffäre breiten Platz, die grossen Schwierigkeiten der Getreideversorgung finden dagegen nicht statt. Darum gibt es auch keinen einzigen Gedanken darauf, inwiefern wirtschaftliche Bedürfnisse eine treibende Kraft in der Schaffung des Bundesstaats von 1848 waren. Dafür erfahren wir, dass die Ära Metternich in der Schweiz relativ früh «welkte». Alles in allem folgt die Darstellung einem Verständnis, wie es Interessierten mit dem «Auszug aus der Schweizergeschichte» von Karl Dändliker seit 1910 zur Verfügung gestellt wurde. Eine verpasste Chance.

Zitierweise:
Georg Kreis: Rezension zu: Volker Reinhardt: Geschichte der Schweiz. München, C.H. Beck, 2006. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 57 Nr. 2, 2007, S. 217-218.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 57 Nr. 2, 2007, S. 217-218.

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